«Zählen Sie auch zu jenen, die in ihrer Freizeit noch ein Musikinstrument lernen oder sogar ein Fachbuch lesen und gleichzeitig Lernen im Betrieb als anstrengend und wenig gewinnbringend wahrnehmen?
Viele Menschen bringen die Motivation auf, neben der Arbeitszeit und mit Eigenmotivation verschiedenste Dinge zu lernen. Dieselben Menschen erleben Lernen im betrieblichen Kontext häufig als eine Bürde, die es zu ertragen gilt. Ein vielseitig interessierter Bekannter hat sogar berichtet: «Die Seminare bei uns sind schrecklich, sie kosten nur Zeit, keiner hat darauf Bock und alle sind froh, wenn es vorbei ist!». Vielleicht kennen Sie diese oder eine ähnliche Situation in Ihrem Umfeld. Eine wirkliche Freiheit beim Lernen gibt es meistens nicht bzw. wird durch eine hierarchische top-down Kultur torpediert. Das führt dazu, dass wir Seminare besuchen müssen, für die wir kaum Motivation aufbringen. Auch helfen viele Inhalte in der aktuellen Arbeitssituation nur wenig und anschliessend fehlt meist die Zeit, den Inhalt in der Praxis anzuwenden. Wenn dann auch noch das Budget fehlt, die Themen zu lernen, an denen wir wirklich Interesse gehabt hätten, entsteht genau diese Null-Bock-Stimmung, die alles andere als förderlich für eine offene Lernhaltung ist – Stichwort ‚Reaktanz‘ (Brehm, 1966) – und auch dem Unternehmen langfristig schaden kann.
Was tun, wenn Lernen nicht motiviert?
Diese Null-Bock-Erfahrung haben wir auch bei QualityMinds erlebt und das war zugegebenermaßen auch sehr schmerzhaft. Denn: die QualityMinds wurden 2012 als IT-Dienstleister im Bereich Qualitätssicherung mit dem Ziel gegründet, Agilität tagtäglich in der Firmenkultur zu leben.
Der Ansatz agiler Software-Entwicklung entstand vor zirka 20 Jahren und basiert auf einer iterativen, kundenzentrierten und kollaborativen Art der Zusammenarbeit. Die Werte und Prinzipien sind unter anderem im Manifest für agile Software-Entwicklung zusammengefasst. Der einzelne Mitarbeitende und die persönliche Interaktion, seine Eigenverantwortung und Selbstorganisation stellen hierin zentrale Werte dar.
In den ersten Jahren nach der Firmengründung haben auch wir einen eher klassischen Ansatz der Fort- und Weiterbildung verfolgt. So haben wir beispielsweise mehrtägige Schulungen für unsere Kolleginnen und Kollegen gebucht. Leider war das Feedback häufig negativ:
- «Die Inhalte des Seminars haben eigentlich nicht zu dem gepasst, was ich jetzt in den kommenden Wochen brauche.»
- «Über die Hälfte des Gelernten kannte ich schon – das hat den Trainer gar nicht gekümmert.»
- «Das Training war ganz gut, aber wie bringe ich das jetzt in die Praxis?»
Mit Blick auf die hohen Kosten mussten wir schnell erkennen, dass der Ansatz, Kolleginnen und Kollegen einfach nur auf Schulungen zu schicken, weder für die Teilnehmenden noch fürs Unternehmen effektiv und effizient war. Ganz zu schweigen davon, dass Teilnehmende so kaum selbstorganisiert, eigenverantwortlich und praxisintegriert lernen konnten.
Was ist eigentlich agiles Lernen?
Nachdem wir unseren Kolleginnen und Kollegen eine solche Null-Bock-Erfahrung ersparen wollten, haben wir uns grundlegend die Frage gestellt, wie eine richtig motivierende Lernumgebung aussehen könnte. Als agiles Unternehmen haben wir uns daher gemeinsam auf den Weg gemacht, Lernen neu, zukunftsfähig und ‚agil‘ zu gestalten. Leitend waren dafür folgende Aspekte:
- Der/die Teilnehmende steht bei uns konsequent im Mittelpunkt, nicht die Lerninhalte und Zertifikate.
- Eigenverantwortung und Selbstorganisation werden stärker gewichtet als ein aufwändig bis ins Detail erarbeitetes Curriculum.
- Individuell gewählte und in kleine Pakete eingeteilte Lernziele wirken motivierender als globale Entwicklungsziele mit wenig konkreter Struktur.
- Die Individualität der lernenden Person ist wichtiger als das einfacher zu realisierende Giesskannenprinzip.
- Lernen passiert wesentlich häufiger «on the job» während der Arbeitszeit mit Kolleginnen und Kollegen und nicht nur «off the job» in Workshops.
- Metakompetenzen über das eigene Lernverhalten sind genauso wichtig wie der Kompetenzerwerb selbst.
Diese Grundsätze haben wir aus wissenschaftlichen Ansätzen, unter anderem Lehr-Lern-Theorien sowie der Psychologie, gewonnen und mit agilen Methoden und Frameworks wie beispielsweise Scrum kombiniert. Inzwischen leben wir bei QualityMinds das agile Lernen seit vier Jahren und bekommen sehr positives Feedback von den Teilnehmenden. Das war natürlich kein Zufall – wir haben einen Weg gefunden, unsere Kolleginnen und Kollegen nachhaltig im Lernen zu unterstützen.
Mit agilem Lerncoaching zu mehr Lernmotivation
Sowohl individualisiert gestaltete Lernprozesse als auch die Begleitung des Teilnehmenden sorgt nachweislich für mehr Motivation und Lernerfolg (vgl. Schuster, 2018; Bloom, 1984). Aber wie in agilen Entwicklerteams entsteht Selbstorganisation nicht einfach so. Und so wollten wir unsere Kolleginnen und Kollegen auch im Lernen nicht alleine auf weiter Flur stehen lassen.
In agilen Entwicklerteams gibt es aus gutem Grund die Rolle des Scrum Masters, die für uns die Inspiration für eine neue Rolle war, nämlich die des agilen Lerncoaches (in Scrum Teams kann der Scrum Master unter Umständen auch gleichzeitig der Lerncoach des Teams sein). Der agile Lerncoach unterstützt die Teilnehmenden umfassend und persönlich auf ihrer Lernreise in folgenden Punkten:
- Eigene Lernziele festlegen, formulieren und strukturieren
- Bereitstellung passender Lehrmaterialien in geeigneten Formaten
- Entwerfen von Übungen zur Vorwissensaktivierung und zur Wissenssicherung
- Gestalten von kollegialen und kollaborativen Lernangeboten
- Gezieltes Sichern der Praxisintegration
- Reflexion des eigenen Lernprozesses und Lernerfolgs
- Stärken der persönlichen Lernkompetenzen und Metakognition
Um dies zu erreichen, fragt der agile Lerncoach, was Teilnehmende für eine «Ich-Habe-Bock-zum-Lernen»-Haltung benötigen, was sie motiviert und was ihnen beim Lernen hilft.
Dabei wird auch auf der individuellen Ebene das Vorwissen und der Bedarf gemeinsam mit der lernenden Person reflektiert. Lernziele werden im agilen Sinne nicht als Jahresziele formuliert, sondern für einen kurzen und passend gewählten Sprint. So kann schneller auf veränderte Rahmenbedingungen reagiert werden, sowohl im privaten als auch im beruflichen – und gegebenenfalls das Lernziel angepasst werden. Dadurch erhalten Lernende kontinuierliches Feedback (das häufig fehlt) und können durch regelmässige Selbstreflexion (die auch häufig fehlt) die eigenen Fähigkeiten zu Lernen erweitern.
Lohnt sich agiles Lernen?
Aufgrund unserer Erfahrung können wir eindeutig sagen: Ja. Die manchmal auch anstrengende Umstellung auf ein agiles Lernsetting hat sich gelohnt. Gibt man das Vertrauen in die eigenen Mitarbeitenden und unterstützt sie auf die beschriebene Weise, führt das in der Regel dazu, dass die Motivation und Veränderungsbereitschaft deutlich steigen. Gelerntes findet unmittelbarer Anwendung in der Praxis und nebenbei bemerkt: Unsere direkten Kosten für Fortbildungsangebote sind in den letzten Jahren gesunken, gleichzeitig setzen wir durch die Bedarfsorientierung unser Budget zielgenauer ein.
Agiles Lernen spricht sich rum
Wenn man etwas anders macht, fällt das in der Regel auf. So wurden schnell Partnerunternehmen und Kunden auf unseren agilen Lernansatz aufmerksam. Durch das wachsende Interesse haben wir uns im QualityLearning-Team entschieden, unsere Erfahrungen im Buch «Lern doch, was Du willst!» zusammenzufassen und die Ausbildung unserer agilen Lerncoaches für alle Interessierten zu öffnen. Darüber hinaus konnten wir inzwischen auch Firmen in unterschiedlichen Branchen bei der Einführung agiler Lernkonzepte und Lernumgebungen unterstützen.
Buch «Lern doch, was Du willst!»
Ausbildung agiler Lerncoach
Quellenangaben:
Bloom, B. S. (1984). The 2-Sigma problem: The search for methods of group instructions as effective as one-to-one tutoring. Educational Researcher, 13, 4-16.
Brehm, J. W. (1966). Theory of psychological reactance, New York: Academic Press.
Schuster, B. (2017). Pädagogische Psychologie: Lernen, Motivation und Umgang mit Auffälligkeiten. Berlin, Heidelberg: Springer.